Gibt es „gute“ oder „schlechte“ Kohlenhydrate? Dieser
Frage ging Professorin Hannelore Daniel beim 12. Wissenschaftlichen
Symposium des Verbands der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft (VGMS)
Anfang November 2019 in Würzburg nach. „Natürlich hat eine solche
Einteilung von Kohlenhydraten keine wissenschaftliche Grundlage, auch wenn
sie in der Öffentlichkeit mit ihrer Eingängigkeit häufig Anwendung
findet“, sagte die Freisinger Ernährungswissenschaftlerin: „Zu
unterschiedlich sind die biochemischen und physiologischen Wirkungen auf
den menschlichen Organismus.“
Mit den Worten „Menschen sind keine Mäuse“ kritisierte Daniel
ungerechtfertigte Schlussfolgerungen aus Tierexperimenten, die dann in der
öffentlichen Wahrnehmung vielfach zu scheinbaren Widersprüchen führen.
Sie illustrierte das an einem wissenschaftsgeschichtlichen Beispiel: Wie
kein anderes Kohlenhydrat hat Fruktose über die vergangenen zwei Dekaden
einen Wandel von „gut" zu „schlecht" erfahren. Noch vor Jahren wurde
Fruktose wegen seiner geringen Insulinwirksamkeit Diabetikern als Ersatz
von Glukose/Saccharose empfohlen. Doch mittlerweile ist Fruktose noch
schlechter angesehen als Saccharose.
Das beruht jedoch vor allem auf
tierexperimentellen Befunden zur Umwandlung von Fruktose in der Leber zu
Fettsäuren – mit der Folge, dass eine Fettleber entstehen kann. Jedoch
ist die Evidenz für eine solche „Hepatotoxizität“ (Schädigung der
Leber) der Fruktose begrenzt und erschliesst sich eben vorwiegend aus
Studien an Nagern. Die Synthese von Lipiden aus Fruktose (und Glukose) in
der Leber von Menschen hängt jedoch vor allem vom jeweiligen
Füllungszustand der Glykogenspeicher in der Leber ab – und ist somit
humanmedizinisch individuell zu betrachten.
Daniel dokumentierte den aktuellen Wissensstand zu „Zuckerrisiken“ mit
Meta-Analysen von Humanstudien: Bei isokalorischer Nahrungszufuhr
(bedarfsgerecht in Bezug auf Kalorien) sind Zusammenhänge zwischen
Zuckerkonsum und gesundheitlichen Risikofaktoren, insbesondere Diabetes
mellitus Typ II, ausgesprochen schwach – wenngleich stets zu
berücksichtigen sei, dass „Korrelation nicht Kausalität bedeute“, wie
Daniel betonte.
Neue Zuckeralternativen
Einhergehend mit der zunehmenden Popularität des Mikrobioms rücken auch
die fermentierbaren Kohlenhydrate erneut ins Blickfeld des Interesses: Dazu
zählen vor allem der Ballaststoff Inulin sowie Fruktose- bzw.
Galaktose-Oligosaccharide (FOS bzw. GOS), wie sie natürlicherweise in der
Muttermilch vorkommen. Waren es in der Vergangenheit zunächst ihre
Wirkungen auf Stuhlfrequenz und -konsistenz, rücken nun Befunde in den
Mittelpunkt, die einen positiven Einfluss auf die Darmbakterienbesiedlung
versprechen – aber häufig leider auch nicht mehr.
Fazit der
Ernährungswissenschaftlerin zu diesen „guten“ Kohlenhydraten:
„Fermentierbare Substrate wie Inulin, FOS und GOS üben marginale Effekte
auf das Mikrobiom aus und beeinflussen nur die Bifidobakterien
signifikant.“
Ein Süssungsmittel, das wie Zucker schmeckt, aber kein Dickmacher ist –
danach wird schon lange gesucht. Seit kurzem gibt es einen neuen Anwärter:
Das Monosaccharid Allulose, chemisch auch als „Psicose“ bezeichnet, mit
nur 0,2 Kilokalorien pro Gramm. Allulose wird nur in geringem Umfang
verstoffwechselt und zu 70 Prozent über den Urin ausgeschieden. Damit ist
es aus Daniels ernährungswissenschaftlicher Sicht „ohne nennenswerten
Energiegehalt bei guter Süsskraft ein interessantes Substitut für
Saccharose.“
Personalisierte Ernährungsmedizin
Für einen „personalisierten Blick“ auf den Menschen als Individuum
plädierte Professor Christian Sina vom Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein (Lübeck). Der Ernährungsmediziner begründete dies
u.a. mit Ergebnissen aus seinem „Citizen Science Program“. Die
individuellen Blutzuckerreaktionen variieren nicht nur auf der
Tageszeitschiene, sondern unterscheiden sich auch deutlich danach, in
welcher Form die Kohlenhydrate von den Probanden als Zuckergabe in
Testmahlzeiten eingenommen werden: Die Stärke der Gewebeblutzuckerreaktion
folgt dabei keineswegs ausschliesslich dem klassischen Schema Glukose vs.
Vollkornbrot.
Vielmehr zeigt sich eine hochgradig-individuelle Variabilität mit enormen
Streubreiten bei jeder der ganz unterschiedlich zubereiteten
Kohlenhydratgaben – unabhängig von deren jeweiligem Glykämischen Index,
z. B. als Obst, Haferflockenmüsli, Kürbiskernbrötchen, Schokokeks,
Cappuccino oder Traubenzucker. „Kohlenhydrate in der Nahrung sind ein
signifikanter, aber ungenügender Indikator für die Blutzuckerreaktion.
Ein maschineller Lern-Algorithmus sagt die persönliche Blutzucker-Antwort
genauer voraus“, schlussfolgerte Sina.
Er favorisiert deshalb eine
„personalisierte Ernährung“ unter Nutzung zukunftsweisenden
Datenmanagements und künstlicher Intelligenz in Diagnostik, Therapie und
Prävention: „Die Etablierung von ‚nutri-types‘ wird uns eine
Adaptation an individuelle Lebensmittelpräferenzen erlauben, anstatt
Ernährungsgewohnheiten komplett verändern zu müssen.“ (BZfE)
(gb) |