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Report  19.05.2022
Wieso wir uns übers Essen inszenieren
Warum kaufen so viele Menschen glutenfreie Lebensmittel, obwohl sie Gluten vertragen? Warum inszenieren sich immer mehr Menschen über die Art und Weise, wie sie sich ernähren? Und warum wird Ernährung immer mehr zum Bekenntnis?

Die neue Funktionalität von Ernährung dreht sich nicht mehr nur um Aspekte wie Gesundheit und Nachhaltigkeit, sondern auch um persönlichen Nutzen, den man erlangt, wenn man Ernährung als Monstranz vor sich herträgt.


Professor Dr. med. Thomas Ellrott ist Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität in Göttingen, welches sich unter anderem der Frage widmet, warum Menschen anders essen als sie sich ernähren sollten. Der Ernährungspsychologe untersucht und beleuchtet unter anderem, was unser Essverhalten von heute und morgen beeinflusst und aus welchen Gründen, Menschen einem gewissen Ernährungsstil nachgeben und diesen zelebrieren.

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Eine Familie lebt in einer grossen Stadt und die Eltern haben die Aufgabe, für den Kindergarten ihrer Kinder einen Kuchen zu backen. «Diese Aufgabe ist heute wesentlich komplizierter als früher, denn heute muss der Kuchen glutenfrei, laktosefrei und vegan sein und darf gleichzeitig ausserdem keinen Zucker enthalten», illustriert Thomas Ellrott ein Beispiel, das zeigen soll, wie sich der Bezug vom Menschen zur Ernährung in den letzten Jahren und Jahrzehnten gewandelt hat. Gesundheit und Nachhaltigkeit seien die am häufigsten nach aussen hin geäusserten Beweggründe, warum Menschen einem besonderen Ernährungsstil nachgeben würden, erklärt der Ernährungspsychologe.

«Das dahinter aber noch mehr stecken muss als nur das, zeigt exemplarisch die Entwicklung des Marktes für glutenfreie Lebensmittel», führt Thomas Ellrott aus. Der habe in den letzten Jahren ganz schön geboomt: Wenn man sich das Wachstum des Marktes an glutenfreien Lebensmitteln anschaue, dann komme man zum Schluss, dass es ganz viele Menschen gebe, die diese Produkte kaufen und essen würden, obwohl sie Gluten eigentlich vertragen würden. Denn die Zahl der mit einer Glutenunverträglichkeit diagnostizierten Menschen sei viel geringer als die Zahl der Käuferinnen und Käufer von solchen Produkten.

«Gefühlte Gesundheit»

Aus rein gesundheitstechnischen Gründen könne man diesen Kaufentscheid nicht begründen – jedenfalls nicht nur. Studien zeigten nämlich, dass wer aus freien Stücken und ohne Diagnose beispielsweise einer Zöliakie kategorisch auf Gluten verzichte, Mikronährstoffdefizite aufweisen könne und ein Problem mit Getreideballaststoffen bekomme, die für die Gesundheit und das Gewichtsmanagement wichtig seien.

Aus wissenschaftlicher Sicht sei hier also eine gewisse Skepsis geboten, denn glutenfrei sei nicht per se gesund oder gesünder, sagt Thomas Ellrott und fügt an: «Ausserdem haben Konsumentinnen und Konsumenten beim Kauf von solchen Produkten ja auch echte Kröten zu schlucken, denn erstens sind diese Produkte wesentlich teurer als die Gluten-Version davon und zweitens schmecken die Produkte anders – und in den meisten Fällen auch nicht besser.»

Ein Grund für dieses eigentlich irrationale Verhalten sei bei der sogenannten «gefühlten Gesundheit» zu suchen – in der Wissenschaft «Halo-Effekt» genannt. «Das bedeutet, dass ein Produkt ein besonders gutes Gesundheitsimage hat, das es de facto aber gar nicht liefert», erklärt Thomas Ellrott. Und einen solchen Halo-Effekt sei aktuell beispielsweise bei glutenfreien Lebensmitteln ganz stark zu beobachten.

«Wenn glutenfrei draufsteht, dann denken viele Konsumentinnen und Konsumenten, dass das gesund ist – streng genommen steht da aber nur drauf, dass kein Gluten drin ist», erläutert der Ernährungspsychologe. So lasse sich durch den Halo-Effekt auch teilweise das Verbraucherverhalten bei glutenfreien Lebensmitteln erklären, weil Konsumentinnen und Konsumenten davon ausgehen würden, dass diese grundsätzlich gesund seien.

Essen als Pseudo-Religion

«Der Halo-Effekt erklärt aber nicht die ganze Wucht dessen, was wir im Ernährungsverhalten der Menschen aktuell beobachten – also diese Inszenierung der individualisierten Ernährungsstile», erklärt Thomas Ellrott. So habe sich ein neuer Kult um die Ernährung entwickelt – der Kult um das gesunde Essen. «Das heisst, man inszeniert sich gegenüber anderen durch die Art und Weise, wie man isst – es geht um etwas Pseudo-Religiöses», führt er weiter aus und untermauert dies mit einem Zitat von David Bosshart, dem ehemalige CEO des Gottlieb Duttweiler Institute for Economic and Social Studies: «Der Kauf im Biomarkt ersetzt Teilen der Gesellschaft den Kirchgang.» So habe Ernährung eine neue Funktionalität erlangt, die mit Ernährung selbst sowie mit Nachhaltigkeit und Gesundheit gar nicht mehr viel zu tun habe.



Obst wie beispielsweise ein Apfel ist ohne Frage gesund und trotzdem kann auch Obst und Gemüse vom «Halo-Effekt» betroffen sein: So gehen viele Menschen davon aus, dass Bio-Obst oder Bio-Gemüse gesünder ist, obwohl das Attribut Bio nur Auskunft über die Produktionsweise gibt.


«Wenn man sich die ganze Zeit mit der Ernährung beschäftigt und dies auch intensiv nach aussenhin zeigt, dann kann das zu Halt, Sinn und Orientierung im Leben beitragen», erklärt Thomas Ellrott. Etwas, was manche Menschen aufgrund der Globalisierung, Urbanisierung und Digitalisierung nicht mehr in dem Ausmass hätten, wie sie das früher hatten. Durch den technischen Fortschritt würden wir die extreme Geschwindigkeit, Höchsttaktung und die Parallelität der Ereignisse heute viel stärker erleben als früher und die Komplexität des Lebens schlage sich viel stärker bis zu uns durch.

Das führe weiter dazu, dass wir einen Kontrollverlust und ein Unsicherheitsgefühl erlebten, meint er. Darum seien wir entsprechend intensiver auf der Suche nach Halt, Sinn und Orientierung im Leben. Etwas, das Menschen früher traditionell durch Familie und Religion erlangt hätten. Beides spiele aber für die meisten in der Gesellschaft heute eine immer geringere Rolle, weil sich unter anderem die Familienstrukturen in den letzten Jahrzehnten drastisch verändert hätten und die Kirchen schon länger Mitgliederabwanderung zu verzeichnen hätten. So würden sich die Menschen diese Sinnstruktur heute anderswo suchen – beispielsweise über eine identitätsstiftende Ernährung. «So gibt es immer mehr Menschen, die sich über die Art und Weise wie sie essen, inszenieren und auch ihre Identität dadurch Formen oder beeinflussen», sagt Thomas Ellrott.

Essen wird zur Identität

Über einen Sportverein, Musizieren oder andere Tätigkeiten könnte man seine Identität durchaus auch individualisieren und formen. Dass viele Menschen dazu aber Ernährung nutzten, habe mit der fundamentalen Veränderung in unserer Medienwelt zu tun – mit Digitalisierung, erklärt der Ernährungspsychologe. Essen werfe regelmässig Bilder und Videos ab und genau diese Fotos und Videos seien die Währung des digitalen Zeitalters. «Essen kann man tagtäglich mehrfach inszenieren und bekommt dafür Status in den Sozialen Medien», führt er weiter aus. Wer solche Bilder poste, zeige etwas von sich, werde von anderen wahrgenommen und bekomme Geltung. Dafür gebe es in der Wissenschaft einen schönen Begriff: das Leben werde bestimmt durch die «Instagramability». Wenn man Food, also Ernährung und Essen zur Schau stelle, könne man Food als digitale Trophäe und als digitales Statussymbol nutzen. Daraus sei auch der Begriff «Foodporn» entstanden – wenn man sich selbst durch Food zur Schau stelle.


Gesundes Essen inszeniert. Besondere Ernährungsstile wie glutenfrei, vegan oder die Paleo-Ernährung lassen sich sehr gut inszenieren.


Über Ernährung würden nämlich auch Charaktereigenschaften assoziiert und damit mit Menschen verbunden. «Über besondere Ernährungsstile kann man wunderbar sichtbar werden und beeinflussen, welche Werte durch Konsumentscheidungen beim Essen mit einem assoziiert werden sollen», erklärt Thomas Ellrott. Die Art und Weise, wie man esse, werde so zunehmend zu einem Bekenntnis nach aussen und wenn man sich durch gewisse Werte nach aussen hin positiv inszeniere, dann steigere dies das eigene Selbstwertgefühl – unter Umständen fühle man sich sogar moralisch überlegen.

Essen mit Zusatznutzen

Inszenierung durch Essen führe also unter anderem zu einem guten Gefühl. Die Inszenierung von modernen Ernährungsstilen habe aber weitere Zusatznutzen: Über Foren und den Sozialen Medien komme man mit Gleichgesinnten in Kontakt, finde digitale Freunde und damit so etwas wie eine Ersatzfamilie. Weiter könne ein besonderer Ernährungsstil die Komplexität des Lebens reduzieren, denn ein ganz grosser Teil der Alternativen bei der Lebensmittelauswahl komme plötzlich nicht mehr in Frage, wenn man beispielsweise nur glutenfrei oder vegan esse. «Das vereinfacht das Leben – man muss sich nicht ständig entscheiden», erklärt Thomas Ellrott.

Und zu guter Letzt sei auch die Selbstwirksamkeit ein Aspekt des Zusatznutzen von besonderen Ernährungsstilen. Viele Menschen sähen sich heute vor der Herausforderung, dass sie am Abend nicht wirklich sehen, was sie geleistet hätten. «Man arbeitet den ganzen Tag im Büro am Computer irgendwo in der ungreifbaren Onlinewelt, sieht das am Abend aber nicht», erläutert Thomas Ellrott. Für den Menschen sei es aber extrem wichtig, dass er sehe, dass das, was er tue, auch etwas bewirke. Diese sogenannte Selbstwirksamkeit sei sehr wichtig für Lebenszufriedenheit.

«Es geht letztlich um das Gefühl von Kontrolle – mit Selbstwirksamkeit auch Kontrolle zu erlangen und das kann man mit Essen eben sehr auch gut erlangen», meint der Ernährungspsychologe. Wenn man sich für einen Ernährungsstil entschieden habe und den auch tatsächlich beibehalte, dann habe das ein gutes Gefühl zur Folge, weil etwas gelinge und man das Gefühl habe, etwas im Griff zu haben: Selbstwirksamkeit känne man beim Einkaufen und beim Essen sehr schön erfahren.

«Nachhaltigkeit und Gesundheit sind zwar die primären Argumente dafür, sich für einen gewissen Ernährungsstil zu entscheiden», fasst Thomas Ellrott zusammen, «Zusatznutzen auf anderen Ebenen – wie Individualisierung, dieses Wahrgenommen werden, Identität, soziale Gemeinschaft, die Reduktion von Komplexität oder auch ein Kontrollgefühl – unterstreichen aber sehr schön, warum es so attraktiv ist, sich über seine Ernährung zu inszenieren.» (LID)
(gb)
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